Beispiele zum "Grafen"
In der Anmerkung zum Grafen spreche ich davon, dass in den klassischen Märchen manchmal Wege beschrieben werden, wie man erfolgreich sein bzw. "sein Glück machen" kann, wobei der jeweilige Erfolg, sei er finanziell, gesellschaftlich oder emotional, bei genauerer Betrachtung häufig unklar ist. Unklar entweder dahingehend, ob der Erfolg auch dauerhaft sein kann, oder ob man ihn überhaupt als erstrebenswert ansehen kann.
Das ist sicher erklärungsbedürftig. Deswegen möchte ich hier anhand einiger Beispiele von bekannten Grimm´schen Märchen die dort angegebenen Erfolge näher beleuchten:
Sterntaler
Dem Sterntaler-Mädchen fallen bekanntlich in der größten Not Sterntaler in den Schoß, wodurch es reich wird. Das ist wirklich schön und sehr berührend. Allerdings stellt sich die Frage, wie es getreu dem Märchen durch die Sterntaler "reich für sein Lebtag" bleiben konnte. Wie jeder Gewinner von Lotterien oder Preisausschreiben bestätigen kann, verändert sich das Leben nach solch einem Geldsegen leider nicht nur positiv. Dafür sorgen die vielen lieben entfernten Verwandten oder Bekannten, die plötzlich ganz anhänglich werden, aber auch unbekannte Bittsteller aller Art treten an den Gewinner heran (bedürftige und meistens auch nicht-bedürftige) sowie Finanzberater mit todsicheren Geldanlagemöglichkeiten. Durch diese kann jedes noch so große Vermögen schnell zur Neige gehen, selbst wenn man nicht so freigiebig veranlagt ist wie das Sterntaler-Mädchen. Je größer der Gewinn nämlich ist, umso größer und unbescheidener sind auch die Bittgesuche. Wenn ein armes Waisenmädchen einen Kanten Brot an einen Bettler verschenkt, wird ihm diese gute Tat sehr gedankt. Wenn dies dagegen eine Millionärin tut, dann nennt man das Geiz.
Daher steht das Sterntaler-Mädchen nach dem Geldsegen vor einem großen Problem: Entweder wird es, wie übrigens erschreckend viele Lotterie-Gewinner, bald wieder vor dem Nichts stehen, weil es sein Geld verschenkt hat. Oder es hört auf, so großzügig zu sein, wodurch es allerdings genau die Eigenschaft verliert, die der allgemeinen Ansicht nach der Grund für den Geldsegen gewesen ist.
Rein theoretisch ist natürlich auch eine dritte Möglichkeit denkbar, und zwar, dass es immer wieder mit frischen Sterntalern überschüttet wird, sobald es die letzten an seine Mitmenschen verteilt hat. Doch abgesehen davon, dass davon in dem Märchen nichts zu finden ist, würde dies meiner Meinung in letzter Konsequenz die Botschaft vermitteln, der beste Weg im Leben sei es, einen Goldesel wie das Sterntaler-Mädchen zu finden, um ihn zu melken. Da es durch seine Gutherzigkeit einen besonderen Draht zum Himmel hat, braucht man selber nichts weiter zu tun als zu schnorren – je mehr desto besser. Dass dies der Hintergedanke des Märchens gewesen sei, kann ich mir allerdings beim besten Willen nicht vorstellen.
Das tapfere Schneiderlein
Gemäß diesem Märchen kann man anstatt mit Gutherzigkeit auch mit List und unerschütterlichem Selbstbewusstsein zu Geld und Macht kommen. Allerdings muss man, wenn man diesen Weg geht, wohl bereit sein, auf Sympathie und eine gute Partnerschaft zu verzichten. Der tapfere Schneider scheint zwar als Besitzer eines halben Königreichs und Prinzessinnen-Gemahl am Ziel seiner Träume angelangt zu sein, doch kann ihn fast niemand leiden – teils, weil man ihn fürchtet, teils, weil man sich von ihm betrogen fühlt. Nur ein junger Waffenträger ist ihm gewogen und hilft ihm, einen geplanten Mordanschlag auf ihn zu vereiteln. Einen Mordanschlag, an dem übrigens auch seine eigene Frau, die Prinzessin, beteiligt ist. Letztlich bleibt er zwar König bis zu seinem Lebensende, allerdings ist unter diesen Umständen fraglich, ob dieses Lebensende nicht schon recht bald eintreten wird, wenn einer der anzunehmenden Folge-Mordanschläge nicht vereitelt werden kann,
Aschenputtel
Dieses Märchen beschreibt zwar nicht den klassischen gesellschaftlichen Aufstieg von ganz unten nach oben, weil Aschenputtel aus einer wohlsituierten Familie kommt. Doch führt es Aschenputtel im Hauptteil nach ganz unten (genauer gesagt in die massive Erniedrigung innerhalb der Familie), bevor das wunderbare Ende mit der Heirat in die königliche Familie erfolgt. Aschenputtels Weg dorthin möchte ich einmal als Geduld bezeichnen, das Ausharren selbst in unerträglicher Situation; ein Weg, der gleichsam steinig wie auch leidvoll ist, und ich denke, es gibt deshalb kaum jemanden, der ihr den Erfolg nicht von Herzen gönnt (abgesehen natürlich von den Stief-Schwestern und der Stiefmutter). Und doch ist mir nicht ganz klar, ob Aschenputtel ihr Leben als Prinzessin und spätere Königin auch wirklich von Anfang an genießen kann. Was den Prinzen anbelangt, so glaube ich schon, dass alles in bester Ordnung bleibt, weil, auch wenn es nicht so ganz klar gesagt wird, sich hier zwei Liebende zusammengefunden haben. Nur, was ist mit den Bediensteten, dem Hofstaat, den benachbarten Königen und Königinnen: werden die sie akzeptieren und ihr, die vorher in der Asche auf dem Boden in der Küche schlafen musste, den nötigen Respekt zollen? Ich denke, es ist möglich, aber es wird noch einmal ein steiniger Weg werden, und so wird der endgültige Erfolg leider nicht sofort eintreten.
Schneewittchen
Manchmal ist der Weg zum Erfolg die Flucht. Das ist, wie ich glaube, eine der Aussagen von diesem Märchen. Schneewittchen, die als Königstochter eigentlich nur das bekommt, was ihr standesgemäß zusteht, nämlich einen Prinzen zum Gemahl, hat dennoch einen großen Erfolg zu feiern. Sie bekommt dadurch Schutz, den Schutz vor der bösen Stiefmutter, die ihr nach dem Leben trachtet – sowie Frieden. Ihren Erfolg stelle ich nicht infrage, da ich überzeugt bin, dass er wirklich dauerhaft und auch erstrebenswert ist. Allerdings finde ich ihren Weg entsetzlich, der nach jahrelanger Verfolgung eigentlich mit einer vollkommenen Niederlage endet – dem Tod. Dass sie nicht wirklich gestorben ist, freut mich zwar sehr, doch kann Schneewittchen dies in dem Augenblick, als sie die Auswirkungen des vergifteten Apfels spürt, nicht wissen. So stirbt sie (scheinbar) mit der traurigen Erkenntnis, letztlich doch verloren zu haben. Das ist meines Erachtens ein sehr hoher Preis, den sie für den späteren Erfolg bezahlen muss.
Soweit die Beispiele, die mir spontan eingefallen sind. Ich könnte noch weitere anführen, gerade von nicht so bekannten Märchen, doch das lasse ich lieber bleiben. Erstens, weil ich Sie nicht langweilen möchte, und zweitens, weil ich ehrlich gesagt bei vielen der unbekannten Märchen den tieferen Sinn nicht erkenne. Das mag daran liegen, dass sich mir dieser tiefere Sinn (noch) nicht erschlossen hat – vielleicht existiert aber auch keiner. Ich habe beim Lesen oft Unstimmigkeiten und, wie ich meine, logische Fehler entdeckt, die mich an der Qualität mancher Texte zweifeln ließ. Das scheint allerdings nicht nur mir so zu gehen, denn von den über 200 Grimm`'schen Märchen, die bereits von Millionen Menschen gelesen wurden, sind maximal 40 berühmt – den Rest kennt kaum jemand, oder sagen Ihnen Titel wie "Der Jude im Dorn" oder "Das Totenhemdchen" irgendetwas?
Bei den bekannten Märchen hingegen finde ich solche Unstimmigkeiten und Fehler nicht. Sicher erscheint manches auch hier merkwürdig, doch bei genauerer Betrachtung entpuppt sich meistens als geniales Konstrukt, das die wahren Dinge und Mechanismen der Welt erklärt – zumindest für mich.
Diese wahren Dinge sind nicht zuckersüß, utopisch oder "märchenhaft", wie man gemeinhin annimmt, sondern vielmehr wertneutral. So zeigen die beschriebenen Beispiele Wege auf, die zum gewünschten Erfolg führen; den gutherzigen und freigiebigen (Die Sterntaler), den geduldigen (Aschenputtel), aber auch den egomanischen und listigen (Das tapfere Schneiderlein) und andere. Interessanterweise muss der Weg dabei keineswegs ethisch einwandfrei sein, wie man von einem Märchen denken könnte. (Das tapfere Schneiderlein geht sogar über Leichen, genauer gesagt über Leichen von Riesen). Allerdings ist der Erfolg nicht unbedingt von Dauer (siehe die Problematik bei Sterntaler), erstrebenswert (Das tapfere Schneiderlein) oder einfach per Heirat zu erlangen (Aschenputtel), und manchmal muss man auch vor dem Erfolg die vollkommene Niederlage hinnehmen (Schneewittchen). Meines Erachtens sind das keine Warnungen oder Mahnungen, sondern rein sachlich aufgeführte Konsequenzen, wodurch jeder für sich selbst entscheiden kann, ob er den Weg gehen möchte oder nicht.
Nun gibt es aber auch Wege, die meines Wissens in den klassischen Märchen nicht beschrieben werden, und zwar neue Wege. Typisch ist für sie, dass sie nicht nur auf den eigenen, persönlichen Erfolg ausgerichtet sind. "Der Graf" ist solch ein Beispiel (deswegen schreibe ich diesen Beitrag ja auch), aber auch "Der Hahn" (anschließend an den Grafen in Band 1), "Die Bestimmung" (Band 2), "Der Mantel" (auch Band 2) und "Freia" (Band 3). Weitere warten auf ihre Veröffentlichung. Diese Wege sind nicht mehr so leidvoll, man muss auch nicht mehr gegen die Verkörperung des Bösen kämpfen. Sie sind zwar nicht kitschig (zumindest sehe ich das so), aber trotzdem schön und umsetzbar, und sie warten darauf, realisiert zu werden.